Kollegialität
Das dritte Kapitel der Konstitution Lumen gentium stellt eine neue Definition der hierarchischen Verfassung der Kirche vor, besser bekannt unter dem Namen „Kollegialität“. Diese Definition wurde vom neuen Codex Iuris Canonici von 1983 im Canon 336 wieder aufgenommen. Papst Johannes Paul II. erklärte anlässlich der Promulgation des neuen Codex: „Dieses Merkmal der Kollegialität, durch das sich der Entstehungsprozeß dieses Kodex in hervorragender Weise auszeichnet, entspricht vollkommen der Lehre und dem Charakter des Zweiten Vatikanischen Konzils“[1 ], und er fügte sogar hinzu, dass der neue Codex die Kirche als das Volk Gottes darstellen wollte, dessen hierarchische Verfassung „auf das Kollegium der Bischöfe zusammen mit ihrem Haupt gegründet erscheint“.[2 ]
Das Prinzip der Kollegialität wird unter der Nr. 22 von Lumen gentium dargelegt: „Die Ordnung der Bischöfe (...) ist gemeinsam mit („una cum“) ihrem Haupt, dem Bischof von Rom, und niemals ohne dieses Haupt („numquam sine“), gleichfalls (zusätzlich zum Papst allein) Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche“. Die Nr. 21 erklärt die Voraussetzung dafür: Die geweihte Ordnung der Bischöfe folgt den Aposteln in der höchsten Leitungsgewalt. Das erklärt sich aus einer sehr speziellen Auffassung der Sakramentalität des Bischofsamtes, nach der die Bischofsweihe zugleich das Amt der Heiligung und das Amt der Leitung verleiht. Diese zweifache Vollmacht ist jedem Bischof aus seiner Weihe heraus eigen und aus der Tatsache heraus, dass er ein Teil des Kollegiums ist – und dies ungeachtet einer nachträglichen Festlegung durch die hierarchische Autorität, denn diese Vollmacht empfängt der Bischof in der Weihe durch Christus selbst. Logischerweise hat also ein Eingreifen der hierarchischen Autorität nur Wirkung auf die Festlegung des Anwendungsbereichs, nicht aber die Wirkung, ihn wesentlich, in seinem Wesen als Vollmacht, zu bewirken.
Der Canon 336 des neuen Codex bringt diese beiden Aspekte auf folgende Weise zusammen: „In dem Bischofskollegium, dessen Haupt der Papst ist und dessen Glieder kraft der sakramentalen Weihe und der hierarchischen Gemeinschaft mit dem Haupt und den Gliedern des Kollegiums die Bischöfe sind, dauert die apostolische Körperschaft immerzu fort; es ist zusammen mit seinem Haupt und niemals ohne dieses Haupt ebenfalls Träger höchster und voller Gewalt im Hinblick auf die Gesamtkirche.“
Die traditionelle Lehre
Die Kirche setzt sich aus einer und derselben Hierarchie zusammen, deren Mitglieder jedoch mit zwei verschiedenen Vollmachten ausgestattet sind. Der Codex von 1917 sagt das klar im § 3 des Canon 108, und der Canon 109 verdeutlicht diese Unterscheidung nochmals, indem er angibt, dass ein Unterschied in der Art und Weise besteht, in welcher diese Vollmachten übertragen werden:
Diejenigen, welche in die kirchliche Hierarchie aufgenommen werden, werden durch die heilige Weihe in die Grade der Vollmacht eingesetzt: (der Papst) in das Pontifikat, direkt von Gottes Gnaden durch das Mittel der legitimen Wahl und die Annahme der Wahl; (die Bischöfe) in die anderen Grade der Jurisdiktion durch die kanonische Beauftragung“.
Diese Unterscheidung bestätigt sich umso mehr, wenn man bedenkt, dass das Bischofsamt ein Teil des Weihesakraments ist: In diesem Fall könnte es nur das hervorbringen, was durch die Form der Weihe bezeichnet wird. Die notwendige und genügende Form, um ex opere operato das Bischofsamt zu übertragen, so wie Pius XII. 1947 sie in Sacramentum ordinis definiert hat, schließt ohne jeden möglichen Zweifel ein, dass das durch die Weihe übertragene Bischofsamt der Vollmacht des Bischofsamtes entspricht, ausschließlich der Jurisdiktionsvollmacht des Bischofsamtes. Wir wissen andererseits, dass die Jurisdiktion den Bischöfen durch einen Willensakt des Papstes übertragen wird: so lehrt es Pius XII. in Ad sinarum gentem (1954) und Ad apostolorum principis (1958), indem er die Lehre von Mystici corporis (1943) wieder aufnimmt. Die Begriffe, die in diesem letzteren Dokument verwendet werden, sind sehr eindeutig und meinen eine tatsächliche Verleihung der Vollmacht an sich und nicht nur eine einfache Bestimmung über die Ausübung der Vollmacht[3 ].
Aus dieser Lehre folgt, dass, wenn alle Bischöfe, der Papst eingeschlossen, ihre Weihegewalt mittels des Ritus einer Weihe direkt von Gott erhalten, der Papst der einzige Inhaber der Jurisdiktionsgewalt ist und diese direkt von Gott erhält. Die anderen Bischöfe bekommen ihre Jurisdiktionsgewalt direkt vom Papst, nicht von Gott. Und da der Papst seine Jurisdiktionsgewalt nicht durch den Ritus einer Weihe erhält, kann er sie auch innehaben, ohne mit der bischöflichen Weihegewalt bekleidet zu sein. Das ist augenscheinlich der Fall bei der Papstwahl eines Klerikers, der noch nicht zum Bischof geweiht ist: Der Codex von 1917 sieht für diesen Fall vor, dass der Gewählte nach der Annahme seiner Wahl Papst ist, und zwar auch vor der Übertragung der bischöflichen Weihegewalt. Diese sehr eindeutige Unterscheidung der Weihegewalt und der Jurisdiktionsgewalt bedeutet erstens, dass die Bischöfe und der Papst in gleichem Maße das Amt der Heiligung teilen, und sie bedeutet zweitens, dass die Bischöfe und der Papst nicht in gleichem Maße das Amt der Leitung und der Lehre teilen, indem nämlich die Bischöfe eine untergeordnete und auf einen Teil der Herde beschränkte Gewalt empfangen, der Papst seinerseits aber eine oberste und universale Gewalt, die Gewalt, die Lämmer und Schafe, das heißt die gesamte Herde der Kirche zu weiden. Das Erste Vatikanische Konzil fasst diese Situation, welche diejenige der göttlichen Verfassung der Kirche ist, zusammen, indem es eine sehr ausdrucksstarke Formulierung gebraucht: Jeder einzelne Bischof weidet einen einzelnen Teil der Herde, der ihm in Abhängigkeit von einem einzigen obersten Hirten zugewiesen ist („singuli singulos sibi assignatos greges pascunt et regunt sub uno summo pastore“).
Der einzige Inhaber der höchsten Gewalt in der Kirche ist also der Papst. Allenfalls gibt es eine Dualität im Bereich der Art und Weise der Machtausübung: einzeln oder kollegial. Der kollegialen Weise entspricht die Abhaltung der Konzilien; sie hat außerordentlichen Charakter, findet auf Anordnung des Papstes statt und ausschließlich in dem Maße, in dem er darüber auf dem Wege der Autorität entscheidet. Es ist also der Papst, der dem Kollegium Existenz verleiht, um es zu einem zeitlich begrenzten Mittel seiner eigenen Macht zu machen und es an seinem eigenen Handeln als Pontifex Maximus teilhaben zu lassen.
Die Neuerungen des II. Vatikanums
Die Nr. 21 der Konstitution Lumen gentium lehrt, dass die Jurisdiktionsgewalt von allen auf dieselbe Weise empfangen wird, das heißt direkt von Christus; es kann sich nur um dieselbe oberste und universale Gewalt handeln, eine Gewalt, deren Inhaber das Kollegium ist. Was kann dann aber logischerweise der Papst durch seine Wahl empfangen, wenn nicht einen Ehrenvorrang oder einen einfachen Vorsitz? Es gäbe also nur einen einzigen Inhaber der obersten Gewalt, und das wäre das Kollegium, und der Papst wäre lediglich dessen beauftragter Sprecher. Das wäre die Logik, die dahintersteckt. Während des Konzils traf sie auf Widerstand, und man gelangte unter der Nr. 22 zu einem Text, der einen Kompromiss darstellte und in dem gesagt wird, dass es einen zweifachen Träger des Primats gebe, einerseits den Papst und andererseits das Kollegium mit seinem Haupt. Andererseits hat Papst Paul VI. dem dritten Kapitel der Konstitution eine Nota praevia mit vier Artikeln hinzugefügt, die den Text klarstellen sollte.
Es ist zu vermerken, dass die zweite kollegiale Körperschaft eine ganz normale und permanente Körperschaft ist und dass sie in regelmäßigen Intervallen tagt (und nicht mehr nur in außergewöhnlichen Fällen). Und wenn die Zustimmung des Papstes erforderlich ist, dann nur, damit das Kollegium handeln kann, und nicht mehr, damit es als solches überhaupt existiert. Andererseits wird das Kollegium als zweiter Träger des Primats exakt als Kollegium „mit dem Papst“, nicht als Kollegium „unter dem Papst“ oder „in Abhängigkeit von“ seinem Oberhaupt, dem Papst, dargestellt. Und wenn die Nota praevia auch auf der Vorstellung besteht, dass der Papst ganz und gar mit dem Primat ausgestattet ist, so sagt sie doch nichts über die andere Vorstellung, nach welcher das Kollegium, verstanden als eine Versammlung, von welcher der Papst lediglich der Vorsitzende ist, ebenfalls Träger des Primats ist. Im Gegenteil, der § 4 der Nota praevia präzisiert, dass das Kollegium ständig existiert, und zwar nicht nur in seiner Ausübung, gleichermaßen als Träger des Primats (also als ein anderer Träger als der Papst allein).
Ein Kompromisstext
In diesem Text liegt also, selbst wenn er von der Nota praevia verdeutlicht wird, der Keim einer zweifachen Ekklesiologie: der alten und der neuen. Nach der alten musste zwischen zweierlei Ausübungsweisen desselben Trägers derselben obersten Gewalt unterschieden werden; bis dahin hatte das Lehramt niemals gelehrt, dass es zwei verschiedene Träger gebe, von denen jeder die gleiche oberste Gewalt innehabe. Dieser neuen Ekklesiologie zufolge soll es in der Kirche eine zahlenmäßige Unterscheidung zwischen zwei Trägern der obersten Gewalt geben, und diese liege einerseits beim Papst allein, der als außerhalb des Kollegiums und ohne dieses angesehen wird, und andererseits beim Kollegium unter Einschluss seines Oberhauptes, das aber ein einfacher Vorsitzender ist, welcher die Ausübung dieser Gewalt regeln soll. Die buchstäbliche Zweideutigkeit des Textes begünstigt beide Interpretationen. Und deshalb hat Mgr. Parente, der Berichterstatter der theologischen Kommission, welche mit der Erklärung des Sinnes des den Konzilsvätern zur Abänderung vorgelegten Textes beauftragt war, auf dem Konzil selbst die Absicht des Heiligen Stuhls präzisiert: „Es geht nicht darum, die Frage betreffs eines einzigen oder mehrfacher Träger anzuschneiden“. Anders gesagt, die Unterscheidung, die gemacht wird, kann ebenso im traditionellen Sinn einer Unterscheidung zwischen zwei Arten der Ausübung der Gewalt verstanden werden wie im neuen und nicht traditionellen Sinn einer Unterscheidung zwischen zwei Trägern als Inhaber der Gewalt. Der Ausdruck ist also von denen, die ihn verwendet haben, zweideutig gewollt.
Wenn man sich an diesen wörtlichen Gehalt hält, kann man darin einen Kompromisstext sehen. Dieses Ergebnis wird recht gut durch die Einschätzung beschrieben, welche Roberto Amerio in Iota unum, seiner im Jahr 1987, zwanzig Jahre nach den Ereignissen, erschienenen Studie über die Veränderungen in der Konzilskirche, gibt. „Die Nota praevia weist die klassische Interpretation der Kollegialität zurück, nach der der Papst Träger der höchsten Gewalt in der Kirche nur sei, wenn er sie auf eigenen Wunsch mit der Gesamtheit der von ihm zum Konzil einberufenen Bischöfe teile. Die oberste Gewalt ist nur dann eine kollegiale, wenn der Papst sie nach eigenem Willen überträgt. Auch weist die Nota praevia die Doktrin der Neuerer zurück, wonach der Träger der höchsten Gewalt in der Kirche das Kollegium in Gemeinschaft mit – nicht ohne – den Papst sei, der zwar das Haupt des Kollegiums sei, aber die höchste Gewalt – auch wenn er allein handelt – nur in seiner Eigenschaft als Haupt des Kollegiums ausübe. Er wäre demnach der Repräsentant des Kollegiums. Er habe die Pflicht, dieses zu konsultieren, um dessen Zustimmung zum Ausdruck zu bringen. Diese Theorie trägt den Stempel einer mit der göttlichen Seinsweise der Kirche schwerlich zu vereinbarenden Lehre, nach der Autorität ihren Ursprung in der Mehrheit habe. Die Nota praevia richtet sich gegen die eine wie die andere Theorie und legt fest, dass die höchste Gewalt zwar im Kollegium der mit ihrem Haupt verbundenen Bischöfe liegt, das Haupt sie aber unabhängig vom Kollegium ausüben kann, das Kollegium andererseits aber niemals unabhängig vom Haupt. Angesichts der Tendenz des II. Vatikanum, von der strikt kontinuierlichen Linie der Tradition abzukommen, sich atypische Formen, Modalitäten und Verfahrensregeln zuzulegen, bleibt die Frage offen, ob dies im Geist des Modedenkens lag, der das Konzil erfaßte und lenkte, oder an der Denk- und Wesensart Pauls VI.“[4 ]
Das Erste Vatikanische Konzil wird in Zweifel gezogen
Die Überlegung ist interessant, denn sie zeigt sehr gut, dass es diesem Kompromiss nicht gelungen ist, eine klare und saubere Bestätigung der traditionellen Lehre durchzusetzen. Er war nur ein einfacher Bremsvorgang auf der Strecke, welche geradewegs in die Häresie führte. Diese Zweideutigkeit bleibt schwerwiegend, denn sie öffnet der Verleugnung des ordentlichen universalen Lehramtes über die Einzigkeit des Trägers der obersten und universalen Jurisdiktion Tür und Tor. Die Konstitution Pastor aeternus (DS 3053–3054) des Ersten Vatikanischen Konzils verkündete:
Zu dieser ganz eindeutigen Lehre der Heiligen Schrift, die die katholische Kirche allezeit auch in diesem Sinn verstanden hat, stehen in offenem Gegensatze gewisse verwerfliche Ansichten, deren Vertreter die von Christus dem Herrn seiner Kirche gegebene Regierungsform umstürzen wollen, indem sie leugnen, dass Petrus allein vor den übrigen Aposteln – und zwar vor jedem einzelnen wie vor ihrer Gesamtheit – von Christus mit dem wahren und eigentlichen Jurisdiktionsprimat ausgerüstet wurde; oder indem sie behaupten, der Primat sei nicht unmittelbar und direkt dem heiligen Petrus selbst, sondern der Kirche übertragen und erst durch die Kirche an Petrus als ihren Diener weitergegeben worden.“
Die traditionelle Lehre, die das Erste Vatikanische Konzil außerhalb jeder Diskussion vorstellt, wird durch das Zweite Vatikanische Konzil als Diskussionsthema vorgestellt. So wie Mgr. Parente es erklärt hat, ist es ganz und gar legitim, den Text der Nr. 22 von Lumen gentium so zu lesen, als gebe es einen zweifachen Träger der obersten Gewalt in der Kirche. Von diesem Gesichtspunkt kann man zumindest sagen, dass die Lehre des letzten Konzils weit davon entfernt ist, Klarheit gebracht zu haben, und eher eine Verdunkelung und einen wahrhaftigen Rückschritt darstellt. Diese Verdunkelung ist an sich schon unannehmbar, denn die einfache Tatsache, dass eine durch das Lehramt bereits festgelegte Wahrheit angezweifelt werden kann, begünstigt in hohem Maße die Häresie. Der Irrtum, der sich auf dem Konzil nicht durchsetzen konnte, könnte davon profitieren, um anschließend in den Fakten wieder aufzutauchen. Und genau das ist übrigens mit dem neuen Codex von 1983 geschehen. Dieser nimmt die Nota praevia nicht auf und geht deshalb sehr viel deutlicher in Richtung des Irrtums, den die Texte des Konzils explizit auszudrücken vermieden hatten. Wie Johannes Paul II. selbst zugibt, soll dieser neue Codex die konziliare Ekklesiologie in die Sprache der Legislative übersetzen. Er ist es also, der die zutreffende Interpretation des 3. Kapitels von Lumen gentium gibt. Und diese setzt die Kollegialität im täglichen Leben der Kirche durch.
Weiterführende Literatur (in französischer Sprache):
- Abbé Raymond Dulac, La Collégialité épiscopale au deuxième concile du Vatican, Les Éditions du Cèdre, Paris, 1979.
- Abbé Michaël Demierre, « Épiscopat et collégialité » dans L’Unité spirituelle du genre humain dans la religion de Vatican II. Études théologiques. Troisième symposium de Paris (7-8-9 octobre 2004), Vu de haut hors série, 2005, p. 193-212.
- Abbé Jean-Michel Gleize : « A propos d’un article récent », Courrier de Rome n° 358 (548) de septembre 2012.
- Abbé Jean-Michel Gleize : « Une conception collégiale de l’Église vue comme communion » dans Institut Universitaire Saint-Pie X, Vatican II, les points de rupture. Actes du Colloque des 10 et 11 novembre 2012, Vu de haut n° 20, 2014, p. 31-44.
- Abbé Jean-Michel Gleize : « Évêque de Rome? », Courrier de Rome n° 376 (566) de mai 2014.
- Abbé Mauro Tranquillo, « Une tentative de justification de la collégialité » dans Autorité et réception du concile Vatican II. Études théologiques. Quatrième symposium de Paris (6-7-8 octobre 2005), Vu de haut hors série, 2006, p. 409-425.